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Pflegekräfte haben etwas zu sagen – wir müssen ihnen nur zuhören

“Die Tage der hierarchischen Organisation des Gesundheitswesens sind seit langem gezählt”, so Howard Catton, staatlich anerkannte Pflegefachkraft und Leiter der Abteilung Krankenpflege und Gesundheitspolitik des International Council of Nurses (ICN).

Inmitten all der humanitären Krisen, chronischen Krankheiten und alternden Bevölkerungen steht eine extrem unterschätzte Berufsgruppe, die für die Entwicklung der Gesundheitswirtschaft eine zentrale Rolle spielt: Die Pflegekräfte.

„Die Aufgaben von Pflegekräften gehen über die Gesundheitspflege hinaus“, so Howard Catton, Leiter der Abteilung Krankenpflege und Gesundheitspolitik des International Council of Nurses (ICN), dem internationalen Verbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger. „Sie sind das Bindeglied zwischen einem nachhaltigen Gesundheitssystem und dem täglichen Leben.“

In Frankreich arbeiten selbstständige Pflegekräfte wie Francois Sterpione mit Lehrern, Behörden und Eltern zusammen, um sicherzustellen, dass eine Schülerin mit Diabetes täglich ihre Spritzen erhält. Sterpione möchte, dass die Kleine einen ganz normalen Schulalltag haben kann „wie alle anderen Kinder“. In der Schweiz hat eine junge Krankenschwester mit einer an den Lebensstil der Patientin angepassten Wundversorgung dafür gesorgt, dass eine Mutter wieder in den Beruf einsteigen und damit auch ihr Selbstwertgefühl wiedergewinnen konnte.

Catton, der selbst staatlich geprüfter Pfleger ist, kennt die schwierige Lage, in der sich seine Kolleginnen und Kollegen aktuell befinden, aus eigener Erfahrung.

„Pflegekräfte stehen einem Patienten häufig während der gesamten Dauer einer Krankheit, bei chronischen Leiden auch viele Jahre lang, zur Seite“, erklärt er. „Sie fungieren häufig als zentrale Anlaufstelle bei der Koordination von Dienstleistungen, helfen Patienten dabei, sich im Dschungel verschiedener Gesundheitssysteme zurechtzufinden und sind regelmäßig der Schlüssel für die Organisation einer umfassenden Gesundheitsversorgung.“

Angesichts der Zunahme chronischer Krankheiten, des demographischen Wandels und notwendiger Einsparungen in den Gesundheitssystemen bezüglich Geld, Personal und Zeit, glaubt Catton, dass es eine internationale Pflicht gibt, diese engagierten Kräfte nicht nur heute zu unterstützen, sondern auch dafür zu sorgen, dass sie für die Zukunft gut vorbereitet sind.

Respekt und Anerkennung für die Pflege

“Aktuelle Berichte zeigen auf, dass insgesamt 17,4 Millionen Fachkräfte im Gesundheitswesen fehlen. Ungefähr neun Millionen davon sind Pflegekräfte“, so Catton. „Die Anwerbung dieser Arbeitskräfte ist die eine Seite der Medaille, sie dauerhaft zu halten die andere. Mein Rat dazu ist einfach: Wertschätzen Sie Ihre Pflegekräfte!“

Laut Catton kündigen viele Krankenschwestern und -pfleger den Dienst vorzeitig, weil die Anforderungen hoch und die Arbeitsbedingungen schlecht sind. Darüber hinaus setzt die internationale Migrations- und Mobilitätsproblematik auch in der Pflege interkulturelle Kompetenzen und das Beherrschen von Fremdsprachen voraus, um auch in Zukunft auf spezifischere Patientenbedürfnisse eingehen zu können.

Nach Cattons Auffassung wird sich der Pflegeberuf schneller entwickeln als das Gesundheitssystem. Daher müssen Pflegekräfte so aufgestellt sein und unterstützt werden, dass sie sich in ihrer Tätigkeit in vollem Umfang entfalten und weitere, anspruchsvollere Aufgaben übernehmen können. Das ist entscheidend, um eine umfassende Abdeckung bei der Gesundheitsversorgung zu erreichen.

„Pflegekräfte brauchen Zugang zu beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten; sie müssen Anerkennung, Respekt und nicht zuletzt eine großzügige Entschädigung (finanzieller Art) für ihre Arbeit erhalten“, betont Catton. „Darüber hinaus ist es möglich, diese Forderungen auf nationaler Ebene politisch umzusetzen. Diese Faktoren spielen ebenso eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, junge Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen, was immer schwieriger wird.“

Pflegekräfte an den Tisch holen

Aus Cattons Sicht geht die führende Rolle von Schwestern und Pflegern weit über die Arbeit am Krankenbett hinaus. Seiner Ansicht nach sollten sie in wichtigen Entscheidungsgremien für lokale und globale Gesundheitsbelange unbedingt vertreten sein.

„Erst vor ein paar Wochen hörte ich, wie eine Pflegekraft über die Einbindung des Pflegepersonals (oder vielmehr die fehlende Einbindung) während eines Katastropheneinsatzes sprach. Die Pflegekräfte waren offensichtlich Teil der Einsatztruppe, wurden aber nicht in die Gesamtkoordination der Maßnahme einbezogen“, so Catton. „Nach Aussage der Pflegekraft wurde die Verweigerung der Aufnahme in das Gremium damit entschuldigt, dass das ja schon immer so gewesen sei. Dazu kam noch, dass die Pflegekräfte so beschäftigt mit der Arbeit vor Ort waren, dass sie zuerst von ihrer Organisation für die Teilnahme an der Entscheidungsfindung freigestellt werden mussten.“

Für Catton war das gar keine Frage.

„Pflegekräfte sind für den strukturellen Wiederaufbau des Gemeinwesens unverzichtbar. Sie wissen aus erster Hand, was bei langfristigen Entwicklungsmaßnahmen und Katastropheneinsätzen erforderlich ist“, meint er. „Da jetzt eine neue Führungsriege bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Steuer übernommen hat, bin ich zuversichtlich, dass in diesem Bereich bald Fortschritte erzielt werden. In der Vergangenheit war ein Mitspracherecht für Pflegekräfte innerhalb der Organisation keine Selbstverständlichkeit, aber dank der Ernennung einer Leiterin für den Bereich Pflege bei der WHO sieht die Zukunft gut aus.“

Die Beziehung zu Pflegekräften weiter stärken

Aus Cattons Sicht hat die Arbeit mit und für Pflegekräfte etwas fundamental Wichtiges. Unabhängig davon, ob man als Unternehmen mit ihnen zusammenarbeitet oder im Rahmen einer Vereinigung, oder ob es einfach um einen verbalen Austausch über ihre Herausforderungen und Probleme im Berufsalltag geht, sollten Pflegekräfte als Verbündete gesehen werden. Denn nur dann lassen sich die Organisation der Gesundheitsversorgung, ihre Umsetzung und damit verbundene Hürden, aber auch die bestmöglichen Lösungen in ihrer Gänze erfassen.

„Die Tage der hierarchischen Organisation des Gesundheitswesens sind seit langem gezählt“, meint Catton.

Aus seiner Sicht darf die Zukunft der Gesundheitsversorgung nicht dadurch aufs Spiel gesetzt werden, dass politische Entscheidungen über das Gemeinwohl gestellt werden. Schwestern und Pfleger sind Partner in der Pflege – und sie haben ein Mitspracherecht. Unsere Aufgabe ist es, sie mit an den Tisch zu holen.